Ich habe es getan. Es war einfach zu verführerisch.
Einer der ersten schönen Tage Ende März, der Frühling liegt in der Luft, aber noch sind kaum Blüten oder frisches Grün zu sehen. Und dann das! Auf meinen täglichen Spaziergängen mit den Hunden streift mein Blick eine Pflanze am Waldrand. Bleibt hängen: Lange Stiele, die ersten frischen Blätter sprießen schon, eine angedeutete, noch geschlossene Blüte in limettengrün. Wenn sie aufgeblüht ist, wird sie weiß sein.

Viburnum lantan
Foto: pexels-photographwithart

Der Wollige Schneeball (Viburnum lantana) blitzt mir hier entgegen, auf ungefähr 20 Metern steht ein Strauch neben dem anderen am Waldrand mit Südausrichtung.
Am nächsten Tag nehme ich die Schere mit. Es sind doch so viele Sträucher, da fällt das bestimmt nicht ins Gewicht.

Zuhause stelle ich die Zweige in eine Vase, zusammen mit Narzissen, die bei uns am Feld wachsen. Die Blüten der Zweige gehen nicht mehr auf. Aus ästhetischen Gründen ist das völlig in Ordnung, dieses Limettengrün passt wirklich hervorragend zu den Narzissen und sie halten lange! Und außerdem: Ich liebe die Natur! Also alles gut?

Auf der Seite des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (kurz: BMUV) gibt es einen Artikel unter der Rubrik Artenschutz, der sich auf das deutsche Bundesnaturschutzgesetz bezieht, genauer auf den Paragrafen 39 (§ 39 Allgemeiner Schutz wild lebender Tiere und Pflanzen).
Die Überschrift lautet: „Darf ich Blumen in der freien Natur pflücken?“
Da steht: „Das deutsche Artenschutzrecht unterscheidet zwischen allgemeinem und besonderem Artenschutz. Während durch den allgemeinen Artenschutz sämtliche wildlebende, durch künstliche Vermehrung gewonnene sowie tote Pflanzen wild lebender Arten, geschützt sind, umfasst der besondere Artenschutz nur bestimmte, einzeln aufgeführte Arten. Der allgemeine Artenschutz gilt damit gleichmäßig für alle Pflanzenarten, unabhängig von ihrem Schutzstatus. Es handelt sich dabei somit um einen Mindestschutz. Damit ist die Entnahme von Pflanzen grundsätzlich verboten.
Von diesem grundsätzlichen Verbot gibt es jedoch eine wichtige Ausnahme: Die so genannte "Handstraußregelung". Jeder darf danach wildlebende Blumen, Gräser, Farne, Moose, Flechten, Früchte, Pilze, Tee- und Heilkräuter sowie Zweige wild lebender Pflanzen aus der Natur an Stellen, die keinem Betretungsverbot unterliegen, in geringen Mengen für den persönlichen Bedarf pfleglich entnehmen und sich aneignen.
Bei dieser Entnahme ist jedoch äußerste Vorsicht geboten, denn die Handstraußregelung ist nur auf Pflanzen anwendbar, die nicht dem besonderen Artenschutz unterliegen. Das ist in der Praxis nicht immer so leicht festzustellen. Um herauszufinden, ob es sich um eine Pflanze handelt, die dem besonderen Artenschutz unterliegt, muss zunächst eine genaue Bestimmung der zu entnehmenden Pflanze erfolgen.“

Viburnum opulus
Foto: pexels-nikitaxnikitin
Campanula trachlium
Foto: Sebastian Conrad
Viburnum opulus
Foto: marta-wave

Viburnum lantana unterliegt keinem besonderen Schutz. Also alles gut mit meinem Wolligen Schneeball, dessen Blüten nicht mehr aufgehen und dementsprechend keine Früchte mehr produzieren werden.
Nicht ganz.

Erstens: Er wächst langsam, nur 15 bis 30 cm im Jahr. Ich habe ihm zwölf Äste mit je 40 cm Länge genommen. Zweitens: Er produziert zwar kaum Nektar aber blüht sehr früh im Jahr, darum ist er für Wildbienen und andere Insekten zumindest nicht unwichtig und drittens: Er ist ein wichtiges Vogelnährgehölz. Und da haben wir das eigentliche Problem, das auch mit beerentragenden Wildsträuchern wie dem Wolligen Schneeball zusammenhängt: Das Vogelsterben.
Viele Waldbauern legen keinen Wert mehr auf einen schönen, kraut- und strauchreichen Waldrand, viele Gartenbesitzer*innen greifen lieber zur Thuja und zum Kirschlorbeer als zu heimischen Sträuchern und viele Gemeinden „pflegen“ ihre Straßenbegleithecken mit einem überdimensionierten Mulchgerät, dass alles kurz und klein häckselt. Darum ist er gar nicht mehr so häufig, der wollige Schneeball und seine Früchte. Wie überhaupt viele Vogelnährgehölze gar nicht mehr so häufig sind. Dazu gehören zum Beispiel auch Hagebutten, die sich so schön in herbstlichen Werkstücken machen. Wie steht es denn nun um die Vögel, die ich mit meiner Aktion um viele Beeren gebracht habe? Der Hauptgrund für das wirklich dramatische Vogelsterben ist laut NABU die Tatsache, dass die Vögel ihre Jungvögel einfach nicht mehr großziehen können. Weil ihnen der geeignete Lebensraum und die Nahrung fehlt.
In meiner Liste fehlt auch noch ein “Viertens“: Der Mensch. Denn es gibt keine „freie“ Natur mehr, zumindest nicht im deutschsprachigen Raum (außer vielleicht in sehr abgelegenen, felsigen Ecken der Alpen). Wir leben in einer vom Menschen kultivierten Landschaft. Das heißt, dass ich durch meine Ernte auch die Bemühungen (eines oder mehrerer Menschen) um einen artenreichen, abgestuften Waldrand torpediere.
Für Blühflächen und -streifen auf Äckern bekommen Landwirt*innen übrigens Fördergelder. Diese Fördergelder werden dafür ausgezahlt, dass diese Flächen eben NICHT genutzt werden, sondern dass sie Nahrung und Lebensraum für Insekten, Vögel und Niederwild bieten. In einer ansonsten ziemlich ausgeräumten Landschaft.
Ich weiß das eigentlich. Ich habe mit genug Bauern und Landwirt*innen, mit Unteren und Höheren Naturschutzbehörden, dem LBV und Landschaftspflegeverbänden zu tun gehabt.

Was also tun, wenn man nicht Teil des Problems sondern Teil der Lösung sein möchte und einen trotzdem diese uralte, menschliche Sammelwut und Sehnsucht nach wilder Schönheit und Gestaltung packt?

Foto: pexels-lukas-dlutko
pexels-cottonbro

1) RESPEKT. Respekt vor der Natur, der jeweiligen Pflanze, der jeweiligen Situation, den Tieren, die von dieser Pflanze abhängen und vor den Menschen, die diese Pflanze(n) durch die Art ihrer Bewirtschaftung fördern.

2) TABU. Nicht nur gesetzlich, sondern auch aus Liebe zur Natur sollte für die professionellen Anbauer*innen unter uns das Sammeln tabu sein. Tabu sind natürlich auch für Privatpersonen Naturschutzgebiete und seltene, gar vom Aussterben bedrohte Pflanzen und Lebensräume. Um herauszufinden, ob eine Pflanze selten oder gefährdet ist, ist die App „Flora Incognita“ sehr hilfreich. Sie erkennt nicht alle Pflanzen aber die meisten.

3) LERNEN. Was wächst wo? Wer ernährt sich von was? Was ist geschützt, was nicht? Was ist zwar nicht geschützt, sollte aber trotzdem stehen gelassen werden? Was ist ein Lebensraum? Ist der Lebensraum intakt? Ist das eine artenreiche Wiese? Was ist der Unterschied zwischen einer (artenreichen) Wiese und einer Blühfläche? Hält diese Pflanze überhaupt in der Vase?

4) BEOBACHTEN. Gibt es Orte, z.B. Hecken am Straßenrand oder blütenreiches Straßenbegleitgrün, die sowieso regelmäßig gemäht, gemulcht oder eben „gehäckselt“ werden? Flecken, an denen sich sogenannte invasive Neophyten wie kanadische Goldrute oder Topinambur ausbreiten? Dann kann man da sammeln. Oder schneidet gerade ein Landwirt, eine Landschaftsgärtnerin oder ein Hausmeister sowieso an Pflanzen herum? Gibt es nur eine Rose mit Hagebutten oder wirklich viele? Sammeln hier auch andere Menschen? (Wir sind meistens nicht die einzigen, die „nur ein bisschen“ sammeln, das kann man ganz wunderbar auf vielen blumigen Insta-Accounts beobachten, und viele „ein Bisschens“ sind auch viel).

5) KULTIVIEREN. Wir leben in einer Kulturlandschaft, also kultiviert und gestaltet doch einfach mit; Siedelt Wildpflanzen auf euren Schnittfeldern, in euren Gärten und auf euren Balkonen an! Von diesen kann man auch ernten, viele freuen sich auch über einen (sachgemäßen) Schnitt ab und an. Und lasst zarteres Un- und Beikraut stehen, manchmal freuen sich die Kulturen über einen bedeckteren Boden. Spätestens dann werden wir Teil der Lösung.

6) KOMMUNIKATION. Fragt bei den Menschen und Orten an, bei denen regelmäßig "Grünschnitt" anfällt. Das können zum Beispiel Landwirt*innen, Gärtner*innen oder auch die Verantwortlichen in Parks oder botanischen Gärten sein. Vor allem im Frühling und Herbst fällt hier häufig viel Material an, welches sich wunderbar floristisch nutzen lässt und so das Wildsammeln nicht nur überflüssig macht, sondern gleich auch noch Verbindungen zu anderen Menschen entstehen lässt!

Campanula rapunculoides
Foto: pexels-cottonbro

Kleine Liste heimischer Wildpflanzen, die sich für florale Werkstücke eigenen und am besten selbst angebaut werden (ich benutze hier die lateinischen Namen, damit keine Verwechslung aufkommt und natürlich ist die Liste nicht vollständig).
Sträucher: Viburnum lantana, Viburnum opulus, Prunus spinosa, Rosa glauca, Corylus avellana, Ligustrum vulgare, Cornus mas.
Kletterpflanzen: Clematis vitalba, Hedera helix.
Stauden und Gräser: Aquilegia vulgaris, Dianthus carthusianorum, Malva sylvestris, Helleborus foetidus, Salvia pratensis, Centaurea montana, Luzula nivea, Briza media, Campanula persicifolia, Campanula rapuculoides, Campanula trachelium, Galium verum, Galium mollugo, Aruncus dioicus, Lunaria rediviva, Silene vulgaris, Anthoxanthum odoratum.
Ein- und Zweijährige: Reseda lutea, Daucus carota, Dipsacus fullonum, Digitalis purpurea, Centaurea cyanus, Orlaya grandiflora

Prunus spinosa
Foto: Sebastian Conrad
Foto: clay-banks-h--EvPnOGjY-unsplash

Text von Miriam Distler - Landstreich

weiterführende Links:
https://www.bmuv.de/themen/artenschutz/artenschutz-durch-den-buerger/darf-ich-blumen-pfluecken https://floraincognita.de/
https://naturgarten.org/
https://www.tausende-gaerten.de/

Bezugsquellen (für Wildgehölze, Saat- und Pflanzgut) z.B.:
https://www.natur-im-vww.de/